"Noch einen Tag leben!"

Diesen Satz in seiner Tragweite und Tiefe sowie existentiellen Bedeutung zu begreifen und zu erfassen, war den Neuntklässlern des Apian-Gymnasiums am 23.01.2013 vergönnt, als Abba Naor seine Lebensgeschichte als Juden während der Zeit des Nationalsozialismus erzählt.

„Noch einen Tag leben!“ - Vortrag von Abba Naor

Dabei zieht er seine Zuhörer direkt in seinen Bann, indem er mit leichtem Akzent von seiner Familie zu erzählen beginnt. Er betont ihre Normalität und setzt die unglaublichen Zahlen der ermordeten Juden dagegen: Seine Familie, die sich in Litauen zu Hause fühlte, war nur ein kleiner Teil der 250 000 Juden, die in dem Agrarstaat in Kaunas lebte. Abba Naor und sein Vater gehörten zu den 10 000 Überlebenden der Shoa, die, obwohl Litauen als Musterland für die Massenexekution der Juden auserwählt worden war, Hitlers Vernichtungsprogramm entkommen konnten.

Eine mittelständische, jüdische Familie, in der sich der Vater mit den Zielen des Landes identifizierte und für die Gemeinschaft durch seine Arbeit bei der Freiwilligen Feuerwehr eintrat. Als "Sandwichkind" hatte Abba Naor einen jüngeren, zweijährigen, und einen älteren vierzehnjährigen Bruder. Viele Verwandte waren auch in Litauen und Abba Naor fühlte sich als "litauisches Kind", das die Schönheit des Landes und sein Schnee im Winter schwärmen ließ.

„Noch einen Tag leben!“ - Vortrag von Abba Naor

Der letzte Kakao

Zum Wendepunkt des Schicksals der Familie wurde der 22. Juni, der Einmarsch und das Bombardement Kaunas. Der Vater eilte zur Feuerwehr, wohin er die Familie bald nachkommen ließ. Den üblichen Kakao mit der fetten Milch hätte er von der Mutter vorgesetzt bekommen, erinnert sich Abba Naor und verzieht auch heute noch leicht das Gesicht. Doch die Mutter habe geantwortet: "Wer weiß, ob es nicht der letzte ist!"

Es war der letzte, denn die Familie floh aus der Stadt in die Hauptstadt Vilnius. Doch hier hatte die kleine Familie keine Anlaufstelle, sodass schnell die Rückkehr beschlossen wurde. Die Versicherung eines deutschen Offiziers, dem man bei einer Reifenpanne half, der Krieg ende in zwei Wochen, da sei man in Moskau, bestärkte die Idee. Die folgende Schilderung des idyllischen Landlebens, bei der Fahrt durch Dörfer und über Felder, wobei Abba Naor nebenbei die Herstellung von Butter erlernte, verdeutlicht den eingeschränkten Blickwinkels eines damals Dreizehnjährigen. Die Frage, warum seine Mutter immer wieder beruhigt werden müsse, wirft Abba Noar noch genauso fragend in den Raum wie vor zweiundsiebzig Jahren. Dann veranschaulicht er die bereits begonnene Verfolgung der Juden als Schuldige des Einmarsches der Deutschen an Bildern. Verspottungen, Exekutionen und der Brand der Synagoge sind zu sehen. "Man lebte frei in Litauen!" Es war unvorstellbar.

„Noch einen Tag leben!“ - Vortrag von Abba Naor

Vom Zweifel zur Gewissheit

Die Familie sammelte sich bei einer Tante, etwa 20 Leute, als der Befehl kam, ins Ghetto umzusiedeln. Wer diesem Befehl nicht folgte, dem drohte die Erschießung. So sammelten sich ca. 30000 Juden in einem größeren und einem kleineren Ghetto, die durch eine Brücke miteinander verbunden waren. Da die jüdische Bevölkerung nur das, was sie unmittelbar tragen konnte, mitnehmen durfte, war die Ausstattung dürftig. Ohne feste Wohnungszuteilung vor Ort gelangte die Familie Naor mit ihren 23 Mitgliedern in eine Zweizimmerwohnung mit Küche. Doch das stellte nicht das Hauptproblem dar, war man doch zusammen und nun von den ehemaligen Nachbarn, die sich plötzlich so anders verhielten, abgeschirmt, "unter sich - das war beruhigend".

Doch wie kam man an Nahrung, vor allem da das Einkaufen nur sehr eingeschränkt erlaubt war und das Ghetto am 15. August geschlossen wurde? Man sendete die Kinder, in der Annahme, dass man diesen Unschuldigen nichts tun würde. So ging auch der ältere Bruder zum Einkaufen. Abba Naor wendet sich ab und meint ausdruckslos, dass er nicht wieder gekommen sei. Die nackten Tatsachen lässt er nun einfließen: Am 8. August wurden 26 Kinder geschnappt und hingerichtet. Mit Nachdruck betont er: "Wir konnten es nicht glauben.[…] Man wollte hoffen! Das war nicht verboten."

Diese Hoffnung auf Besserung schürte auch der Aufbau eines alltäglichen Lebens. Eine Verwaltung wurde ernannt, ein Krankenhaus errichtet, eine Arbeitsbrigade aufgestellt. Bei Letztem dabei zu sein, war wichtig, denn nur hier konnte man ohne Lebensgefahr an Nahrung gelangen. Ein Arbeiter erhielt pro Woche 700g Brot und 150g Pferdefleisch. Doch der Schein trügte, denn Ende September wurde das kleine Ghetto umzingelt, die Juden umgesiedelt und ermordet. Denjenigen, die dem Grauen entkommen konnten, wollte man aber immer noch nicht glauben. Man war doch arbeitsfähig und Arbeitskräfte würden ja gebraucht. Dem weiteren Morden, veranlasst durch den Verantwortlichen Karl Jäger, entgingen die verbleibenden Juden durch den Einspruch der Zivilverwaltung, die tatsächlich Arbeitssklaven brauchten. Es folgten weitere Repressalien, wie die Abgabe von Schmuck, Pelzen oder anderen Wertgegenständen.

Abba Naor sammelt sich. Schließlich erzählt er vom 28. Oktober. Um 6.00 Uhr mussten sich die Juden des Ghettos auf dem "Platz der Demokratie" einfinden. Nach stundenlangem Warten kamen schließlich die litauische Polizei, die SS-Truppen und am Ende die "wirklich wichtigen Personen". An diesen musste jede Familie vorbei. Ohne zu sprechen oder gar Fragen zu stellen, wiesen sie die Familien mit erhobenen Daumen mal nach links, dann nach rechts. Abba Naor führt die Geste vor und legt Gewicht in seine Stimme, es sei Angst und Sorge gewesen, die sie umtrieben.

Doch als die Leute auf der rechten Seite abtransportiert wurden, wusste man endlich, dass das nichts Gutes verhieß. Anfang 1942 meldet Karl Jäger, dass 138 272 Juden ermordet worden seien. Abba Naors Familie bestand nun nur noch aus 15 Leuten. Dass die Täter scheinbar Menschen wie Du und Ich waren, verdeutlicht Abba Naor an Karl Jäger, der eine eigene Familie, humanistische Bildung genossen hatte und musizierte. Zudem nicht schlecht aussah. Auch hätten Leute den Juden gegen hohe Bezahlung sich ihrer Kinder angenommen, in dem Versprechen, sie zu retten, um sie dann aber der Gestapo zu übergeben. Wie das zu erklären ist? Er wisse es nicht. "Es waren genug Mitläufer", meint er und seine Worte treffen auf betroffenes Schweigen.

„Noch einen Tag leben!“ - Vortrag von Abba Naor

Daneben berichtet Abba Naor aber auch über die kleinen und großen Helden, die den Juden halfen. So habe das Volk in Bulgarien gegen den Willen der Machthaber 50 000 Juden gerettet. Mit dem Satz "Ich war auch mal Kind" leitet er die Rückkehr zur Tagesordnung im Ghetto ein. Die Freude über die Möglichkeit, zur Schule zu gehen, oder über geschmuggelte Bücher, lässt ihn verschmitzt lächeln, hatte er nicht zuvor versichert, dass es ihm anfangs durchaus nicht schwer viel auf diese Pflicht zu verzichten. Die Schüler nicken und verstehen die veränderte Situation. Doch die Schule war nur ein vorgeschobener Vorwand, um die Anzahl der noch dort lebenden Kinder zu erfassen. Und so verschwanden immer weiter Leute, vor allem Kinder. Dem kleinen Bruder hatten sie ein Versteck im Kamin gebaut, sodass er die Säuberungsaktionen der SS überlebte.

Schließlich wurde das Ghetto in ein Konzentrationslager umgewandelt, man erhielt einen Arbeitsausweis und jetzt war man sich sicher, das sei ein "Lebensausweis". Nun könne nichts passieren. Doch diese letzte Hoffnung wurde mit den immer näher rückenden Kriegsfronten zerstört. Aus den Arbeitskommandos Geflohene berichteten von der Ausgrabung und Verbrennung der Erschossenen und in Massengräbern geworfene Juden. Selektierte Kinder wurden in die Gaskammern nach Ausschwitz gesendet. Er werde oftmals gefragt, ob er gläubig sei, wirft Abba Naor ein. "Ich beneide jeden der gläubig ist. Ich habe den Glauben leider verloren, aber nicht an den Menschen!"

„Noch einen Tag leben!“ - Vortrag von Abba Naor

Der Abtransport

Schließlich wurde auch das KZ in Kaunas aufgelöst. Erwartet hatte man das nicht. Vater und Sohn versteckten sich und wollten die Suche nach "ein paar Hundert" entgehen, als die Mutter rief, sie sollen rauskommen, es gebe eine Umsiedlung. Die Familie kam mit dem Boot nach Danzig. Hier wurden sie nach Geschlecht geteilt, mit dem Versprechen, sich am Wochenende zu sehen. Abba Naor folgte seinem Vater. Nach dem Waschraum wurden sie vollständig rasiert. Er zählt trocken die Kleidungsstücke auf, die er nun bekam: Eine Sträflingsanzug mit Nummer, Unterwäsche aus Papier, eine Mütze und Holzschuh.

Die Mütze

Die Mütze sei wichtig gewesen im Durchgangslager Stutthof 1944, betont Naor. Doch zuerst berichtet er von der Nützlichkeit der Papierunterwäsche gegen die Kälte. Das sei besser als nichts gewesen. Die Holzschuhe hätten hässliche Wunden hinterlassen. Die hygienischen Umstände eine Katastrophe. Die Häftlingskleidung habe auch alleine stehen können, ja sogar gehen, bewegt von Millionen Läusen. Der Tagesablauf begann immer gleich mit einem Appell. Sie wurden gezählt. Dann kam der Lagerkommandant. "Mütze ab!" Danach musste man die Mütze ans Bein klopfen, Abba Naor macht es vor. "Es sollte ein Ton sein!", wiederholt er mehrfach. Schikane, immer noch nicht ein Ton. Noch mehr Schikane . Endlich ein Ton.

Um 10.00 Uhr gab es die Hauptmahlzeit. Hier galt es, die Büchse genau auf die Topfkante zubringen, wollte man nicht die Suppe über dem Kopf haben. Es folgte langes Warten in brütender Hitze ohne Wasser. Abends erneut ein Appell und schließlich noch ein Brot, vielleicht auch eine Ecke Käse. Dann ging es in die Baracke, für 300 Mann gebaut, mit 800 - 1000 Mann besetzt. Schlafen? Man konnte froh sein, falls man einen Sitzplatz ergatterte.

Seine Mutter und den kleinen Bruder sah er am 26. Juli mit einer Kolonne abmarschieren - in die Gaskammern Auschwitz`. "Ich war 16 Jahre. Ich war ein alter Mann", sagt Naor und schaut die Schüler intensiv an. Bei einer erneuten Selektion nahm ihn aber sein Vater trotzdem an die Hand. Als die Wache das sah, wurden sie getrennt. Mit dem letzten Transport kam Abba Naor nach Utting am Ammersee.

„Noch einen Tag leben!“ - Vortrag von Abba Naor

Organisieren

Hier bauten sie Lager und Fabrik selbst auf. Durch einen Zwölfstundentag harter Arbeit und der dürftigen Verpflegung starb jeder zweite Häftling. Wie also überleben? Morgens wie immer Appell. Die Toten mussten auch mit. Die Zahl musste stimmen. Daran gewöhne man sich schnell, dass der Nachbar vielleicht nicht mehr erwachte, berichtet Abba Naor emotionslos, die Frage vorwegnehmend.

Dann lehnt er sich über das Rednerpult und zählt auf. Drei Dinge seien wichtig: erstens die Freunde, zweitens das Aufpassen und drittens das Organisieren. Mit vier weiteren jungen Häftlingen bildete Abba Naor eine eingeschworene Gruppe, die sich half, wo sie nur konnte. Aufpassen musste man bei der Arbeit. "Wie schaut er mich an? Mache ich die Arbeit richtig?" Denn, ein Schlag, führt Abba Naor aus, würde reichen. Den hätte man nicht überlebt - keine Kraft. Schließlich das Organisieren. Jede Möglichkeit, an Nahrung zu kommen, wurde genutzt. So hatte Abba Naor beispielsweise das Glück, für die Wachmannschaft beim Bäcker das Essen zu holen. Sah der Wachmann nicht hin, so gab die Bäckersfrau ihnen ein Päckchen mit Nahrung. Sogar mit Schweinen haben sie um die Nahrung gestritten. "Jede Kartoffel - ein Sechser im Lotto! Noch einen Tag leben!"

Die Sehnsucht nach seinem Vater ließ ihn sich bei der Suche nach Freiwilligen melden. "Seitdem hätte er sich nie wieder, freiwillig gemeldet", fügt er ironisch an.

Im Außenlager von Dachau Kaufering I beginnt Naors schwerste Leidenszeit, denn schnell wird klar, dass hier ein langes Überleben nicht möglich war. Die unterirdische Flugzeugsfabrik sei ein "Monster" gewesen, dessen "Wände voll mit Leichen" seien. Denn das Tragen der schweren Zementsäcke auf den schmalen, schlüpfrigen Holzbrettern führte bei jedem unbedachten Schritt in den Tod. Auch die Schikanen, wie das Spielen von Musik, wenn sie von der Arbeit heimkehrten und stundenlang auf dem Appellplatz standen, zermürbte. Extrasuppe gab es nur, wenn man die sich angesammelten Leichenberge am Ende der Woche half wegzuschaffen. Am 24 April 1945 änderte sich plötzlich die Routine des Lagers. Es hieß, sie müssten zur Schweizer Grenze marschieren, um gegen deutsche Kriegsgefangen ausgetauscht zu werden.


Der Todesmarsch

Abba Naor erzählt nun nur noch skizzenhaft und reißt blitzlichtartig Eindrücke an. Nach einer Übernachtung auf dem im Regen stehenden Appellplatz im KZ Dachau setzten sie sich in Marsch. Neun Tage und neun Nächte marschierten sie ohne Trinken und Verpflegung. Wer auf der Strecke blieb, wurde erschossen. Der Hunger sei so groß gewesen, dass sie Gras gegessen hätten. Das schmecke ganz gut, wirft Abba Naor ein, die Wurzeln seien flüssig und süß. Als sie am 1. Mai ein Waldstück in Pfarrkirchen erreichten, sahen die Häftlinge ein totes Pferd. Verzweifelt versuchten sie, mit bloßen Händen das Fleisch zu fassen. Sie wurden erschossen. Als man am nächsten Morgen schneebedeckt aufwachte - Schnee am 2. Mai - waren die Wachen verschwunden. Die Amerikaner fanden die ausgemergelten Gestalten wenig später. Abrupt hört Abba Naor auf zu erzählen. Er zeigt abschließend Bilder. Leichenberge, wie sie die Amerikaner vorfanden.

Zaghaft folgten nun Fragen der Schüler. Nach dem Schicksal des Vaters, mit dem Abba Naor später in München wieder zusammenfand. Wie er sich erneut eine Existenz hätte aufbauen können, lässt ihn kontern: "Das war nicht das Erste, was mich bewegt hat!", bevor er ein bisschen aus seinem weiteren Leben erzählt. Ausführlicher beschreibt er, wie er dazu kam, als Zeitzeuge in die Schulen zu gehen. Seinem vierten Enkel Daniel habe er es nicht mehr abschlagen können, in der Schule sein Schicksal zu erzählen. Er wollte seinen Enkel nicht blamieren, berichtet Naor, doch sei er beinah unfähig gewesen, zu erzählen. Er bemerkte das Interesse und aufgrund der wenig verbleibenden Zeitzeugen sei es seine Pflicht gewesen. "Ihr seid die nächsten Zeitzeugen. Ihr werdet im Stande sein, euren fragenden Kindern zu sagen, ich habe einen lebendigen Zeitzeugen erlebt. Das sind wahre Geschichten!"

Alexandra Koppetsch, StRin

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